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Der Standard - 28.09.2009
Und schon tanzt der Blick
Steirischer Herbst: Philipp Gehmacher und "deepblue"

Dass sich die Bühne nach dem Prinzip der ineinander steckenden Matrjoschka-Puppen choreografieren lässt, belegen beim Steirischen Herbst zwei Tanzstücke, die auch Installationen sind, einmal ein Archiv und einmal ein Film. Die Urheber dieser Arbeiten sind die belgische Gruppe "deepblue" und der österreichische Choreograf Philipp Gehmacher mit dem Berliner Vladimir Miller.
"You are here", sagen "deepblue" - Heine Røsdal Avdal, Christoph De Boeck und Yukiko Shinozaki - ihren Besuchern im Grazer Dom im Berg. Diese warten erst vor dem Dom-Eingang, dann noch einmal vor dem Einlass in die in diesen eingebaute Black Box und ein drittes Mal in der Hinterbühne mit Blick auf die Publikumstribüne.
Die Spannung steigt, während die Tänzer Avdal und Brynjar Abel Bandlien die Zuschauerstühle mit roten Fäden einwickeln. Der Bühnenboden ist mit 800 weißen Blättern belegt, auf die mit feinem rotem Stift Zeilen gezeichnet sind. An ein paar Stellen sind alte Archivboxen gestapelt.

Bevor die Stimmung kippt

Die Darsteller entfernen genügend Blätter, um Gassen zu bahnen, durch die das Auditorium zur Tribüne gelassen wird. Avdal und Bandlien beginnen mit kleinen Aktionen: Sie machen ihr Tun als Konzept auf. Über eine kleine Leuchtschrifttafel wird ironisch erklärt, wie das Sinn macht. Papiere werden aufgehoben, es entsteht ein Labyrinth als Modell einer Handlung ohne Inhalt, bis die Zuschauer beinahe in einen Zustand irritierter Erwartungslosigkeit geraten. Und just als die Stimmung zu kippen droht, beginnen die Performer, die Archivboxen an die Besucher auszuteilen.
Diese öffnen diese Kartons einen nach dem anderen, und in jedem verbirgt sich eine Überraschung: Zusammen eröffnen sie ein zauberhaftes Schachteltheater. Mit winzigen bemalten Zinnfigürchen und allerlei Material hat "deepblue" in diese Miniaturbühnen Modelle von Handlungsszenen eingebaut. Manche Boxen geben Laute von sich, enthalten Monitore mit Texten, Reißverschlüsse.
Die Stimmung hebt sich. Das Publikum vergisst beinahe, dass, während es die Schachteln erforscht, auf der Bühne die Performance weitergeht. In den Miniaturen sieht es sich gespiegelt und in eine Art Science-Fiction-Plot involviert.
Bei Gehmachers & Millers dead reckoning , das im Jänner vom Tanzquartier Wien gezeigt wurde, funktioniert die Matrjoschka anders. Im Heimatsaal des Volkskundemuseums wird über vier Videoprojektoren ein Studioraum auf eine Skulptur projiziert, die aus zwei gekreuzten Wänden besteht. Das Kino in dieser Installation besteht also nicht in einer Frontal-, sondern in einer Zentralansicht.
In dem Raum-im-Raum bewegen sich drei Tänzer: Gehmacher, Christine De Smedt und Rémy Héritier. Das Publikum wiederum bewegt sich um die Projektionsskulptur herum und wird im Suchen nach Blickwinkeln zum Teil der Performance, die eigentlich ein Video ist. Die Tänzer erscheinen als Gespenster, die verschwinden und mit ein paar Schritten wieder - frontal, seitlich, von hinten - erhascht werden können. Das Schauen wird zur Entdeckungsreise, zur Choreografie der Wahrnehmung.
So komplex die beiden Arbeiten auch sein mögen, sie schlagen das Publikum durch ihr einfaches, hintergründiges und gewitztes Auftreten in ihren Bann - auch dadurch, dass sie das Beobachten und Erleben zu einem echten Abenteuer machen. Denn die Wahrnehmung wird so treffsicher mobilisiert, dass die Zuschauer leicht über eigene Assoziationen ihre eigenen Geschichten entwickeln können.

Helmut Ploebst