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Die Furche - 01.10.2009
Hier, in Graz, kampiert eure Vernunft!
Der „steirische herbst“ eröffnete am 24. September einen „Tempel der Vernunft“ und haust dennoch bis 18. Oktober in einem Festivalzentrum mitten in der Stadt.

Das ist mir gleich, sagen wir, wenn wir auf gefällig machen. Oder wenn es uns schlicht egal ist. Noch öfter sagen wir es, wenn wir uns nicht entscheiden können. Und hoffen, dass dies ein anderer für uns tut. Für die kommenden drei Wochen entscheidet der steirische herbst in Graz für zeitgenössische Kunstfreunde, was es zu sehen gibt. Zahlreiche Veranstaltungen quer durch alle Kunstdisziplinen, inklusive Theorie und Diskurs, beschäftigen sich mit dem, was gilt, wenn alles gleich und gültig ist. Hinterfragt wird dabei das diesjährige Motto „All the same“. Bewusst wird mit Mehrdeutigkeiten gespielt, von der Gleichgültigkeit als Desinteresse bis hin zur Gleichberechtigung als Utopie und Alltagsforderung.

Bruchstellen der Gegenwart
Die Bruchstellen der Gegenwart aufzuzeigen und durch künstlerische wie diskursive Prozesse sichtbar zu machen braucht Denkkraft. Der Ruf nach Vernunft scheint nicht mal weit hergeholt zu sein. Wen wundert es also, wenn sich das Kunstfestival zum Auftakt einen „Tempel der Vernunft“ errichtet und zum Aufsuchen lädt. Das krisengeschüttelte Gesamtkunstwerk war für vier Stunden geöffnet. Dann wich der hohe Zeltbau in der Helmut List Halle dem Phantom-Ghost-Konzert (D) und der Party.
Zuvor aber schlenderte man durch die vom Grazer Theater im Bahnhof und raumlaborberlin installierten 24 Tempelkojen, aus denen man unterschiedlich genervt, bereichert oder auch ratlos zurückkehrte. Denker und Waffenhändler, ein Insolvenzberater, ein Einbrecher und ein Chaosforscher bieten ihre Dienste an. Jeder von ihnen ein Lebenskünstler zum Anfassen, zum Befragen und Aushorchen, zum Begaffen und Belächeln. Lediglich die heilige Anrührung, für die ein Tempel eigentlich zu sorgen hat, will sich nicht so recht einstellen. Und in Erinnerung bleibt nur, was das Leben abglänzt und unvernünftig erscheint. Etwa wenn der Tod einen erwischt und Karten mit Fragen nach dem eigenen Sterben verteilt. Wenn beim Stand „Welt erklären“ drei Schauspieler Zeitungstexte auswendig lernen und sie so vortragen, als sei demnächst eine Katastrophe zu erwarten. Für Franz Schuh bitte das nächste Mal einen separaten Tempel! Er unterwies in der Koje „Wohnzimmer“ die Massen und philosophierte im breiten Sitzmöbel sitzend über die Macht des Publikums, das hier umherflaniert. Kommt man dennoch zum Schluss, dass dieser Tempel auch etwas mit einem selbst zu tun haben könnte, so ist das natürlich viel. Auch die Kunst hat diese Einsicht bekanntlich äußerst gern.

Herbstwünsche vor und im Orpheum
Aber „flanierende Statisten“ reichen nicht für einen Tempel. Man wünscht sich ein Erschaudern. Und das Ende der Gleichgültigkeiten. Ein Herbstwunsch, der auch bis zum Festivalzentrum, welches heuer vor dem und im Orpheum liegt, vorgedrungen ist. Dort errichteten das Duo Michael Rieper (A) und Irina Koerdt (D/A) ein temporäres Schauhaus aus 1300 Quadratmetern OSB-Platten. Gleichgültig kann einem dieses in tiefem Rot und knalligem Violett gestrichene riesige Holzregal schon deshalb nicht sein, weil es für kurze Zeit die architektonischen Umbausünden des Orpheums verbirgt. Das farbenfrohe Schauhaus zeigt auch, dass der herbst heuer vermehrt in den öffentlichen Raum drängt. Die Ausstellung „Monument und Utopie“, kuratiert von der ehemaligen Direktorin der Generali Foundation Sabine Breitwieser, zeigt zehn internationale künstlerische Positionen an fast zwanzig Orten der Stadt. Allen gemeinsam ist das Fragen nach der Gültigkeit von Kunst in einem Stadtraum, der von Handel und Kommerz durchtränkt ist. Was gilt, davon erzählt auch die erste Theaterpremiere dieses herbstes. Das Regie-Kollektiv „Rimini Protokoll“ aus Berlin gastiert mit „Radio Muezzin“ im Festivalzentrum und lässt drei Muezzins aus Kairo aus ihrem tiefreligiösen Leben und ihrem Alltag in der Moschee erzählen. Im Hintergrund laufen Videos aus ihrer Heimat, die zwischen hier und dort eine subtile Nähe empfinden lassen. Dass hier nicht gespielt wird und dennoch mehr zu sehen ist als eine informative Dokumentation, ist bemerkenswert. Man darf also gespannt darauf sein, welche Tempelbeiträge bis 18. Oktober noch zu sehen sein werden, auch wenn der Eröffnungstempel bereits wieder deinstalliert ist.

Barbara Rauchenberger