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Salzburger Nachrichten - 28.09.2009
Staubsaugen und Beten
Dokutheater. Im "steirischen herbst" berichtet Rimini Protokoll vom ganz normalen Alltag von Muezzins, die Zukunftsängste haben.

Gott ist größer. Und das irdische Leben ist nur ein trügerischer Genuss. Botschaften wie diese waren ihr Alltag, doch der Sparstift kennt auch bei der Religion kein Erbarmen und ab 2010 soll es in Kairo den zentralisierten Muezzin geben: 30 auserwählte Ausrufer sollen via Radio tönen, Tausende andere verstummen. Vier davon kommen im Theaterprojekt "Radio Muezzin" von Rimini Protokoll zu Wort.
Das von Stefan Kaegi entworfene Dokumentationstheater richtet den Blick auf die Menschen, die hinter den im Westen vorrangig transportieren Zerrbildern von Fanatismus und Radikalität stehen. Staubsaugen in der Moschee statt Sprengstoffgürtel und Demonstrationen mit Feuerzauber und Hassparolen. Vor eingespielten Videos, die das Lebensumfeld der Muezzins in das Grazer Orpheum bringen, berichten das Quartett im "steirischen herbst" aus einem Alltagsleben, das unter anderem aus dem Wechseln von Glühbirnen oder dem Bewachen ausgezogener Schuhe besteht.
Das Publikum erfährt in Monologen, dass die Lautsprecher, die die göttlichen Botschaften verkünden, heute nicht mehr aus der DDR oder der Sowjetunion, sondern aus China stammen, oder dass es Weltmeisterschaften im Koranrezitieren gibt. Dazwischen sind Siegeslieder von hoher Musikalität zu hören, flimmern Straßenbilder aus Kairo oder sind Urlaubsfotos zu sehen, die einen Muezzin zeigen, wie er neben einer McDonalds-Clownstatue posiert. Die Hauptdarsteller agieren, obwohl sie sich in ihrer bisweilen zum Schmunzeln animierenden Normalität outen, etwa über Pickelprobleme beim (berufsbedingten) Bartwuchs referieren, stets mit Würde. Kaegis Regie ist respektvoll, nie ausbeutend: gediegenes, kurzweiliges "Expertentheater", das blinde Flecken der kollektiven Wahrnehmung mit Inhalten füllt, diesmal auch Beiträge zum besseren Verständnis zwischen den Kulturen enthält.
Dass "Radio Muezzin" für westliche Theaterkonsumenten weniger radikal erscheint und auch weniger an die Grenzen geht als bei anderen Projekten von Rimini Protokoll, mag auch in der begleitenden Kontrolle des ägyptischen Religionsministeriums begründet sein. Nicht alles darf auf die Bühne, nicht alles darf ausgesprochen werden. Und auch die hierorts üblichen Theaterrituale sind mit islamischen Gepflogenheiten nicht kompatibel. So wurde - um Irritationen vorzubeugen - nach Stückende der Hinweis gegeben, dass sich ein mehrfaches Verbeugen für Muezzins nicht gehört.
Thematisiert wurde auch ein interner Konflikt: Einer, der im Koranrezitieren große Meriten erwarb und auch als Bodybuilder gute Figur macht, ist nicht mehr live, sondern nur noch via Video präsent. Sein Text wird von einem Einspringer gelesen. Menschliches Zerwürfnis, Starallüren oder religiöse Differenzen? Nicht so wichtig. Bloß: In "Radio Muezzin" darf es auch menscheln. Wie auch bei christlichen Mesnern. Fazit: ein von Respekt getragener Blick in eine fremde Welt.Rumoren in der Blackbox Von der großen weiten Welt in den Mikrokosmos Theater: Mit "you are here" gestaltete die belgische Kompanie deepblue im Dom im Berg eine wunderbar leichte Miniatur, die über den Theaterraum an sich ebenso nachdenken lässt wie über das eigene Verhalten als Besucher. Zwei Akteure sammeln weiße Zettel vom Boden ein und reichen dem Publikum alte Archivbehälter, die zu öffnen sind und Staunen erzeugen. Denn darin räkeln sich nackte Minifigürchen, mutiert ein Sitzender zum tolldreisten Kreisel, werden die Besucher dupliziert, schnattert und rumort es geheimnisvoll im Dunkeln.
Dutzende Kurzgeschichten werden erzählt, die angenommen oder verweigert werden können, eine im Dom im Berg montierte Leuchtschrift gibt zudem Handlungsanweisungen, verkündet Grundsätzliches ("Aktion nicht möglich") oder kommentiert Geschehnisse im Publikum. Das Spiel ohne Worte von deepblue ist eine charmante Liebeserklärung an den Möglichkeitsort Theater.

Martin Behr