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Kleine Zeitung - 17.10.2009
steirischer herbst: Vom Hauch der Geschichte(n)
Zum Finale des steirischen herbst gibt es bildgewaltige Stadt-Impressionen aus Moskau und eine intensive Auseinandersetzung mit Argentiniens Militärdiktatur.

Moskau ist eine unfassbare Stadt, das ahnen auch die, die noch nie dort waren. Nirgendwo leben mehr Millionäre pro Quadratmeter, auf der Straße verkaufen arme Mütterchen Plastikblumen. Billig ist beschämend, Luxus etwas, das man sich leisten können muss, um jeden Preis. Auch wenn das heißt, nach der Arbeit, wenn die anderen gegangen sind, heimlich die Böden aufzuwischen - wie eine Krebsforscherin im multimedialen Stadtporträt der belgischen Künstlergruppe "Berlin" ihren "peinlichen" Zweitjob gesteht.

"Moskau" ist der vierte Teil des "Holocène"-Zyklus (deutsch: Holozän, die aktuelle Epoche der Erdgeschichte) von Berlin - Teil drei, "Bonanza" war 2008 im herbst zu sehen. Auf sechs Monitoren, die sich in einem Zelt (Achtung, fast sibirische Kälte!) um die Besucher drehen, erzählen Politaktivisten, Journalisten, Wissenschaftler, Zirkusartisten von der Stadt der Widersprüche, ein Streichquartett und ein Pianist begleiten die bildgewaltigen Stadt-Impressionen mit Musik von Prokofjew. Ein sehr gelungener Versuch, diese unfassbare Stadt zu erfassen.

Von Nina Müller


Historisch relevant ist auch das zweite herbst-Projekt des Abends. Aber statt Erdgeschichte geht es hier um Zeitgeschichte: Die argentinische Autorin Lola Arias, zum dritten Mal Gast im steirischen herbst, untersucht in "Mi Vida Después" (Mein Leben danach) die Beziehung der heute um die Dreißigjährigen zu ihren Eltern und damit auch Argentiniens Militärdiktatur (1976 - 83). Begleitet von Familienfotos, Super 8- und Videofilmen, Tonbandaufnahmen, Songs, Briefen tauchen die sechs Darsteller in private Kindheitserinnerungen ein, die zugleich die politische Vergangenheit der Elterngeneration beschreiben.

Politik ist immer privat, also wird ein Kleiderhaufen zum Geschichte(n)fundus, aus dem ein Geheimagent, ein Widerstandskämpfer, ein Bankangestellter, ein Peronist, eine Nachrichtensprecherin, ein Priester heraussteigen. Exemplarische Biografien, die von Folter, Verschleppung, Exil berichten, von geraubten Kindern und Mord, aber auch von Autorennen, Meerschweinchen und Großvaters Tanzstiefeln. Intensives biografisches Erzähltheater, das über Jahrzehnte und Kontinente hinweg bewegt.

Von Ute Baumhackl



Nina Müller / Ute Baumhackl