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Der Standard - 08.10.2009
Erst fehlt die Fahne, dann kommt Krieg
Recherchen eines Heimatlosen beim Steirischen Herbst

Die Uraufführung der neuen, explizit politischen Arbeit des iranisch-norwegischen Choreografen Hooman Sharifi handelt von einer Gesellschaft ohne Zeit.

Einer, der nun beim Steirischen Herbst seine neue Choreografie uraufführen wird, hat ein Namensdouble: den iranischen Musiker Hooman Sharifi. Dieser emigrierte 2008 nach Kanada, drei Jahre, nachdem ihm und seiner Gruppe Sayeha von den iranischen Behörden ein Konzert mit der Begründung verboten worden war, die Musik sei zu "verwestlicht".
Dem repressiven Gottesstaat entwichen ist der 1973 in Teheran geborene Tänzer und Choreograf Hooman Sharifi bereits im Alter von 15 Jahren. Als er ganz auf sich gestellt in Oslo ankam, "lernte ich erst einmal das Gefühl der Sprachlosigkeit und Einsamkeit kennen", erzählt er heute. Den Eindruck seiner migrantischen Vergangenheit verarbeitet Sharifi bis heute in allen seinen stets explizit politischen Stücken.
Angefangen hatte er mit Street Dance und HipHop; mit 21 Jahren nahm er Unterricht in Ballett und modernem Tanz und schloss mit einem Diplom des Osloer National College of Ballet and Dance ab. Man schrieb 2000; Sharifi gründete gleich seine Impure Company.
Spätestens, als er zwei Jahre später As if your death was your longest sneeze ever präsentierte, war klar, dass der Künstler es mit seinem Bekenntnis, Kunst sei für ihn gleichbedeutend mit sozialem Bewusstsein - das heißt, mit Politik -, ernst meinte. Das Stück war eine verunsichernde Herausforderung an ein Publikum, das von den Tänzern in das Geschehen involviert wurde. Seither spielt Sharifi immer mit Risiko, führt seine Company gerne zu Recherchen in Krisengebiete wie den Libanon oder den Kosovo, um der trügerischen Sicherheit stabiler Länder zu entgehen. Eine seiner Forderungen lautet: "Kunst muss sich an Orten einbringen, an denen kein Platz für sie ist."
Ungeschminkte Ansichten
Aus der jugendlichen Sprachlosigkeit ist bei Sharifi eine Scharfzüngigkeit geworden, mit der er gerne ungeschminkt jene provokanten Ansichten aufs Tapet bringt, die seiner Arbeit zugrunde liegen. "Ich weiß, ich wiege 108 Kilo, und ich weiß, wie ich aussehe", sagte er einmal in einem Interview für die Tanzwebsite corpusweb.net . "Als ich mit dem Belgier Jean-Luc Ducourt an einem Duett arbeitete, fragte der mich an einem bestimmten Punkt: ,Worum geht es da?' Und ich sagte: ,Ich weiß nicht, aber in den ersten zehn Minuten sicher um einen fetten Typen und einen alten Typen.' - Weil er 17 Jahre älter ist als ich." Füllige und alte Tänzer sind im Tanz rare Erscheinungen.
Heraus kam das Duett The Desert , in dem zwei nicht normierbare Persönlichkeiten einander Reibungsflächen boten. Die normative Kraft des Blicks ist es wohl, die es auch der zeitgenössischen Choreografie so schwer macht, das von ihr präsentierte Körperbild zu verändern: Lloyd Newson, Leiter des Londoner DV8 Physical Theatre, hat sich beispielsweise einmal sehr darüber beklagt, dass er monatelang nach einem dicken Profi-Tänzer habe suchen müssen.
Insofern ist allein schon Sharifis Erscheinung auf der (Tanz-)Bühne ein Statement. "Tanz verharrt hauptsächlich bei Körperformen", meint er, "und hat sehr wenig Bewegung. Ich beschäftige mich sehr intensiv mit Bewegung, viel mehr als mit dem Tanzen." Ein Hauptanliegen sind dem Choreografen konsequenterweise Untersuchungen am Körper, an "einer terroristischen Art, Systeme zu bauen; das ist eine sehr befremdliche Methode, sich mit dem Körper auseinanderzusetzen". Hooman Sharifis Stücke sind heute bei allen relevanten Festivals und Häusern zu sehen, die zeitgenössische Choreografie präsentieren. So hatten etwa 2004 die Gruppenarbeit Hopefully someone will carry out great vengeance on me und 2007 God exists, the mother is present but they no longer care im Brüsseler Kaaitheater Premiere. Beide waren auch in Österreich bei Impulstanz zu sehen.
Die aktuelle Uraufführung beim Steirischen Herbst trägt den Titel Lingering of an earlier event . Es geht um ein Land, in dem es keine Gebetshäuser gibt, das keine eigene Fahne hat und in dem Zeit nicht existiert. Es gibt dort unzählige Möglichkeiten des Handelns, daher können die Einwohner miteinander leben, ohne jemals miteinander einer Meinung zu sein. Als dieses Land attackiert wird, versucht es, sich dem Krieg zu entziehen ... Sharifis neue Arbeit soll wieder ein Wurf werden, Gesellschaftsentwurf inklusive.

Helmut Ploebst