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corpusweb.net - 14.10.2009
Körper der Stadt
URAUFFÜHRUNG VON METTE INGVARTSENS "GIANT CITY" MIT "EVAPORATED LANDSCAPES" BEIM STEIRISCHEN HERBST 09

Das Verhältnis der Stadt zum Körper ist symbiotisch, obwohl die - immer den Körper betreffenden - sozialen Verhältnisse in urbanen Gebilden starke Differenzen widerspiegeln. Städte bilden technische und architektonische Extensionen von Sozietäten als verdichtete Raumstrukturen. Solche konzentrierten Erweiterungen entstehen, wenn sich organisatorische Stimuli an besonders geeigneten geografischen Orten häufen. Die Verarbeitung der dort angeregten Aktivitäten und Dynamiken erfordert eine „immobile“ Struktur als Halterungssystem, in dem sich Prozesse bündeln, die durch diese Bündelung voneinander profitieren. So entstehen Netzwerke, deren Knoten Verkettungen von Immobilien anregt.

Nun ist eine Stadt nicht bloß eine technische Karosserie, sondern auch Siedlungsort für jene Individuen, die imstande sind, die erwähnten organisatorischen Stimuli auszulösen und in Arbeitsfelder umzusetzen, etwa indem sie Handel treiben oder sich zu Gemeinschaften zusammentun - also für „Körperschaften“ mit all ihren Bedürfnissen. Hochangeregtes Organisieren und Siedeln erzeugen urbane Körpererweiterungen, die stets so aufgebaut werden, dass Organisationszentren und Heimstätten an Verkehrsadern entlang positioniert sind und die Verkehrsadern miteinander ein Netz bilden. Da diese Verkehrsadern den Bedürfnissen der Kommunikation zwischen den Organisierenden nicht genügen, entstand seit Erfindung von Telegraf, Telefon und Funk ein virtuelles Netz im gebauten Netz jeder Stadt, das heute durch die elektronische Massenkommunikation zu einem so komplexen wie effektiven virtuellen Double der analogen Stadt geworden ist.

Recherche an der Wissensarchitektur

Alle vom Menschen geschaffenen Körperextensionen weisen auf diesen Körper zurück, und sie beeinflussen und beschäftigen diesen Körper, sie formen ihn um. Was aber bedeutet es, wenn eine Erweiterung das Erweiterte transformiert? Wenn sich also der Körper seinen Extensionen anpassen muß, um darin überleben zu können? Es bedeutet, daß es ihm unmöglich ist, sich dem Einfluß selbst erzeugter Systeme zu entziehen. [*] Diese wechselseitige Beeinflussung zwischen dem menschlichen Körper und seinen Erweiterungen hat eine neue Evolutionsperiode eingeleitet, in dem sich Körper, Erweiterung und Umwelt immer inniger miteinander verbinden, auch, weil die Urbanisierung der Menschheit andauert und fortschreiten wird.

Die junge Choreografin Mette Ingvartsen ist eine jener Choreografenpersönlichkeiten, die eine so komplexe Materie vielleicht deshalb reizt, weil sie keine Unterhaltungsliteratur produziert, sondern sich in Forschungsprozessen mit Voraussetzungen und Grundlagen von künstlerischer Produktion auseinandersetzt. Das ist Recherche an Strukturen, an Netzen und ihren Knoten, an Kommunikationen und Wissensarchitektur. In ihrem neuen Stück „Giant City“, das Ingvartsen zusammen mit einer zweiten Arbeit, „evaporated landscapes“ (die als der nun erfolgten eigentlichen Premiere fast identischer Entwurf bereits im Tanzquartier Wien zu sehen war), beim Steirischen Herbst 2009 uraufgeführt hat, durchleuchtet und makroskopiert die Künstlerin das Phänomen der Urbanität aus der Perspektive der ihr inhärenten Körperlichkeit.

Das Pulsieren und seine Verstärkung

Und sie arbeitet der Eigenschaft des Urbanen entsprechend mit extremer Verdichtung. Die Repräsentation von Architektur beschränkt sich auf zwei quadratische Platten aus LED-Leuchten, eine ruht auf einem Sockel auf dem Boden, die andere hängt von der Decke. Sieben Tänzerinnen und Tänzer repräsentieren die Körperschaft(en) innerhalb des Stadtraums. Am Beginn des Stücks posieren die DarstellerInnen als Tableau vivant, zwei von ihnen halten gold-silbrige Rescue-Folien, wie sie in jeder Haushaltsapotheke zu finden sein sollten. Sobald diese Figuren kleine, sich wiederholende Bewegungen auszuführen beginnen, wird auch der Raum um sie herum aktiv.

Sehr langsam steigert sich der Puls dieser Bewegungen, erinnert eine Zeit lang an das Bewegungskonzept in „Dance No.1/Driftworks“ von Eszter Salamon und Christine De Smedt, das im Vorjahr beim Steirischen Herbst und diesen Sommer bei Impulstanz zu sehen war. In der Folge gehen diese Bewegungen aber darüber hinaus, lassen an frühe Arbeiten des Experimentalfilmers Martin Arnold denken. Die Posen verwandeln sich mit der Verstärkung der Amplitude des Pulses.

Der Puls der Stadt ist nichts anderes der Puls der sich darin bewegenden Körper. In „Giant City“ steht jeder Körper nicht nur für seine Repräsentation, sondern sozusagen auch für ein Arrondissement, und diese Bezirke verhalten sich zueinander. Unsichtbare Verbindungen entstehen, Klänge schwirren im Raum, die Leuchtkörper verändern sich. In keinem Moment versucht Ingvartsen, ihre Idee zu illustrieren, konsequent arbeitet sie mit Abstraktionen, setzt konkret den Menschen, der wiederum unausweichlich in das System seiner Gemeinschaftlichkeit integriert ist, ins Zentrum ihrer Reflexion.

Abseits der Anekdote

Wie bei ihrem Trampolinstück „It's in the air“ von 2008 nutzt Ingvartsen das Mittel der Steigerung, hier aber nicht unter dem Aspekt der Vituosität, sondern wie um das System des Erwachens einer Stadt, das Hochfahren ihrer Energiefelder anzudeuten: die Stadt gerät mit den Tänzern ins Schwitzen. „Giant City“ enthält keine urbanistische Anekdote, sondern stellt eine systemische Choreografie dar, in der Individuen zwar Typen erkennen lassen, die aber nur dazu dienen, den Rhythmus der Großstadt in dieser besondern Form von Verdichtung sichtbar zu machen, ohne die körperliche Metapher bis ins Letzte auszudehnen.

Die Organisation, aus der jede Stadt viel mehr besteht also aus Immobilien, reduziert sich in Ingvartsens makroskopischer Anschauung auf dieses Pulsieren im Zusammenspiel der Figuren, die bei „evaporated landscapes“ zur Gänze verschwunden sind. Mit Bezug auf „Giant City“ gelesen, wechselt Ingvartsen von der Vogel- in die Satellitenperspektive und dringt dann in das virtuelle Medium des Beobachtens ein. Verständlich, dass die beide Arbeiten zuerst zusammen gedacht waren. Gut, dass die Choreografin sie entkoppelt hat.

Mit faszinierender Sicherheit bringt Mette Ingvartsen in „Giant City“ den Körper in einen posthuman angelegten Dynamikdiskurs ein. In ihrer Rhythmusmaschine agieren keine glatten, sondern - im Unterschied zu Salamon/De Smedt oder aber auch „It's in the air“ in sich vielfach gebrochene Bewegungsabläufe. Da besticht keine technoide Montage-Brillanz wie bei Martin Arnold, sondern eher der Duktus der Verletzlichkeit organisatorischer Abläufe. In dieser Beunruhigung schließlich entkoppelt sich das Stück von möglichen Assoziationen mit dem historischen Futurismus. Die Stadtmaschine wird als Humanoid gezeigt, das sich von seinen Extensionen gelöst hat, deren Echos die Tänzer antreiben. Hier liegt die politische Intervention der Künstlerin: in ihrer Absage an die Metapher der Masse, der Anonymität und der Klassenhierarchie. Sie kann und will zwar die Transformation des Menschen durch seine Körpererweiterungen nicht wegbehaupten, verweist allerdings kompromißlos auf das menschliche Maß komplexer Organisationsstrukturen und damit die posthumane Romantik in ihre Grenzen.


Fußnote:
[*] Dieses simple Faktum wird übrigens deswegen so erfolgreich verdrängt, weil sich mit seiner Akzeptanz jeder politische Diskurs automatisch auf eine philosophische Ebene bewegen würde, die die Selbstverständlichkeit technokratischer Lenkungsprinzipien aus dem Tritt brächte und beispielsweise zur Folge haben könnte, dass jede Unternehmensgründung auf umständliche und daher „unrationelle“ Vorbereitungsverfahren folgen müßte.



Helmut Ploebst