korso - 01.10.2009
Vom „Tempel der Vernunft“ zu „evaporated landscapes“
Willi Hengstler über den steirischen theaterherbst
Tempel der Vernunft. Ursprünglich war der „Tempel der Vernunft“, mit
dem der steirische herbst 2009 eröffnet wurde, die von den
antiklerikalen Jakobinern 1792 umfunktionierte Kathedrale Notre Dame de
Paris. Allem Anfang schwingt im „Kult der Vernunft“ die Ambivalenz mit,
schlägt der Kult doch leicht ins Irrationale um.
Ambivalent wirkte auch der herbst-Tempel in der List-Halle. In 24
transparenten, ineinander verschachtelten Abteilungen konnten die
Besucher ziellos zwischen Kunstaktionen, Wissensvermittlung und
Therapien surfen. Das antiklerikale, revolutionäre Pathos von 1793 ist
zu einem sanft-verspielten Diskurs der Diskurse mutiert. Das alles war
allerdings so oder so ähnlich schon bei anderen herbst-Eröffnungen oder
Programmen (2003 „insideout“ von Sascha Waltz, 2007 „Schwarzmarkt für
nützliches Wissen“ im Orpheum) zu sehen. Auch das TIB hat seine
ironische Kommentierung gesellschaftlicher Ereignisse schon
konzentrierter vorgeführt. Trotzdem, einige Aktionen waren neu und
gelungen. Relevanz lag jedenfalls in der architektonischen Ähnlichkeit
der Installation mit den Supermärkten und Einkaufszentren, den
eigentlichen Tempeln der Gegenwart: Überangebot in den Regalen,
Platzmangel in den Gängen, kein Zentrum nirgendwo.
Radio Muezzin. Intendantin
Veronika Kaup-Hasler präsentiert jeden steirischen herbst mindestens
eine überragende Inszenierung. Diesmal war es „Radio Muezzin“ von
Rimini Protokoll, dem Label für die Projekte von Helgard Haug, Stefan
Kaegi und Daniel Wetzel. Im Orpheum ging es um von einem Radiotechniker
unterstütze Muezzine aus Kairo, denen nach dem Willen der Obrigkeit die
Arbeitslosigkeit droht. Vier von Tausenden, die durch
Live-Übertragungen des Gebetsrufes abgelöst werden sollen. Der Abend,
schon durch das religiöse Ritual und die „technische Rationalisierung“
strukturiert, verbindet das Beste des Dokumentarfilms mit der
Unmittelbarkeit des Theaters. Und natürlich schwingt neben diesem Thema
im Subtext auch die Neugier oder Angstlust des Westens vor dem Islam
durch. Bei den Erzählungen der Muezzine lauscht man einem aus dem
Gedächtnis vorgetragenem, vom Rimini Protokoll präzis montierten
Konzentrat. Die physische Gegenwart der „Erzähler/Schauspieler“
(allesamt beeindruckend) heilt diese „Unauthentizität“, die man einem
Dokumentarfilm nie abnehmen würde. Ein Blinder, der zwei Stunden
täglich zu seiner Moschee fährt; ein Elektriker, der nach seiner
Rückkehr von Dubai schwer verunglückt und hinterher beginnt den Koran
auswendig zu lernen; ein Bauernsohn und Ex-Panzerfahrer und schließlich
ein in der familiären Muezzintradition stehende Sheik und Gewichtheber,
der Rimini Protokoll wieder verlassen hat und nun von einem
Stellvertreter verkörpert wird. (Wenn ich „ich“ sage, meine ich
ihn)…sogar das Theater als Medium wird reflektiert. Im Hintergrund
laufen ausgezeichnete Videofilme ab (Straßenszenen, Moscheen, private
Fotos), die die wenigen Requisiten – Stühle, ein Paravent, Lautsprecher
– ergänzen. Dass sich die zufälligen zu beinah epischen, spannenden
Erzählungen fügen, ist ein Glücksfall… wie auch die ganze Aufführung
ein Glücksfall war. Lang anhaltender, herzlicher Beifall.
Deepblue.
„you are here“ von „deepblue“ ist laut Programmzettel „eine freundliche
Reise in das Innere des Theaters“ und zweifellos ein zweiter Höhepunkt
des Theater-herbstes. Natürlich lässt sich mit „deepblue“ auch der
Schachcomputer „Big Blue“ assoziieren, der einst Garri Kasparow bezwang
und später wird ein roter Schriftbalken unter der Decke die Rolle von
HAL in Kubricks 2001 übernehmen. Eigentlich handelt es sich um eine
Reise in das Innere eines Computers, in dem zwei Akteure Heine Rösdal
Avdal und Christoph De Boeck, die Transistoren, genauer den Strom,
darstellen, der in den Transistoren fließt. Was ziemlich abschreckend
klingt, fängt damit an, dass sich die Zuseher in der Black Box des
„Doms im Berg“ hinter einem roten Wollfaden drängen. Vor ihnen liegen
DIN A4 Blätter exakt nebeneinander auf dem Boden und werden von den
beiden Akteuren nach einem unergründlichen System aufgehoben. Es bilden
sich Pfade für die Besucher, die erleichtert auf den Sitzen gegenüber
Platz nehmen. Die stummen Akteure lesen weiterhin Papier auf, stapeln
es oder legen es ab, und der rote Schriftbalken unter der Decke
kommentiert jede Operation mit Bestätigungen, die wie üblich alsbald zu
Fehlermeldungen werden: „refreshing copy“, „description changed“,
„error“ u.ä. Das Theater, in dem die Rollen verteilt werden. Nach
einem „Papierstau“ werden die merkwürdigen Kästchen an die Zuseher
ausgegeben. Die Besucher erblicken „sich selber“ in den Kästchen und
lauschen amüsiert oder leicht beunruhigt den merkwürdigen Geräuschen,
die aus diesen weiter gereichten, extrem miniaturisierten Theaterräumen
dringen. Die Einbindung von Zusehern war selten so gelungen, heiter und
klug wie in „you are here“.
Dead Reckoning.
Schwerer zugänglicher war das Experiment Philipp Gehmachers
(Choreografie) und Vladimir Millers (Video). In „dead reckoning“
übernehmen sie eine Navigationsmethode, die auf Fixpunkte außerhalb des
Schiffes verzichtet. Die Peilung geschieht auf Grund des letzten Kurses
und der verstrichenen Zeit. Im Heimatsaal wurde das derart umgesetzt,
dass die stummen Videofilme von drei Tänzern auf die acht Bildflächen
zweier kreuzförmig und senkrecht ineinander geschobener Wände
projiziert wurden: interessanter Ansatz, auch der Besucher kommt nie zu
einem kohärenten Erlebnis.
Giant City & evaporated landscapes.
Nicht weniger experimentell, aber geglückter waren die beiden Arbeiten
„Giant City“ und „evaporated landscapes“ von Mette Ingvartsen im
Mumuth. In „Giant City“ reagieren sieben Tänzer auf eine unsichtbare
Stadt, in „evaporated landscapes“ inszeniert die aus Dänemark stammende
Choreografin eine „Stadt“ ganz aus Schaum, Seifenblasen, Bühnennebel
und natürlich Licht, aber ohne Menschen. Die Tänzer reagieren erst mit
parallelem, kaum wahrnehmbarem Vibrieren auf die „Giant City“, deren
Unsichtbarkeit die leeren Stadtlandschaften in den besseren Filmen
Antonionis evoziert. Sehr gute, erste herbst-Halbzeit.
Willi Hengstler