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Die Presse - 26.09.2009
Was ich lese
Veronica Kaup-Hasler Intendantin des Festivals "steirischer herbst" in Graz

Wie meine Kinder liebe auch ich ganz besonders die Rituale und die Geborgenheit des Vorlesens. Laut lesend nachzuvollziehen, wie aus einem Text heraus Gedanken, Körper, Landschaften Kontur gewinnen, oder, fast noch besser, diesem Vorgang einfach zuzuhören.
Bücher werden mir in solchen Momenten besonders wertvoll, und es ist dann völlig egal, ob es sich um sogenannte "Kinderliteratur" handelt (etwa wenn Harry Rowohlt in einer grandiosen Hörbuchedition Kenneth Grahames Der Wind in den Weiden zu brummigem Leben erweckt) oder "Weltliteratur" (Don Quijote in einer von Chris Riddell fantastisch neu illustrierten Jugendausgabe) oder um einen ein Lieblingsschriftsteller wie Vladimir Nabokov, den ich - zuletzt über Ada oder Das Verlangen - fortwährend neu für mich entdecke und laut lese.
Aber noch lieber - einer sonoren Stimme lauschend - vorlesen lasse. Die Vorlese-Entdeckung dieses Sommers: Roberto Calasso, Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia (Insel Verlag), eine wundersame Wiederbelebung und Neulektüre griechischer Mythen, ein Buch, das mir/uns Wesen und Zauber des Mythos erschlossen und zugleich neu verrätselt hat wie kaum ein anderes zuvor.
"Geschichten, die sich gegenseitig rufen und antworten", die "Natürlichkeit einer Literatur, die den imponierenden Gestus des heiligen Textes nicht kennt", kindlich grausame Begebenheiten vor der Erfindung der Schrift: Calasso, selbst ein großer Leser und gleichzeitig Erzähler, führt einen in das Gefängnis des Minotaurus und andere Labyrinthe, er spinnt wie Arachne, vernetzt Geschichten, die förmlich dazu auffordern, dass man sie laut liest und spricht und ihnen zuhört.