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Die Presse - 28.09.2009
Zappen durch die Bilder-Kultur-Maschine
STEIRISCHER HERBST. Die Inhalte der Ausstellungen sind oft weniger spannend als ihre Titel. Medienkunst ist heuer ein Schwerpunkt in Graz. Die Gruppe "Rimini Protokoll" punktet mit einem aktuellem Thema: "Radio Muezzin".

Menschenauflauf bei der Warhol-Ausstellung im Grazer Kunsthaus am Samstag. Doch auch an Nebenschauplätzen gab es Gedränge. Viele Veranstaltungen des "Steirischen Herbsts" sind gratis. Allerdings hat man den Eindruck, dass ein nicht unwesentlicher Teil des Publikums aus den Künstlern, Kuratoren, Helfern besteht, die von einem Schauplatz zum anderen wandern. Über die ganze Stadt verteilt sind die Ausstellungen, inflationär könnte man meinen. Die vielen Grazer Kunstorte verlangen nach Inhalt.
Dieser überzeugt, wenig überraschend, am ehesten, wenn Profis am Werk sind. Die ehemalige Direktorin der Generali Foundation, Sabine Breitwieser, gestaltete "Utopie und Monument" mit Kunst im öffentlichen Raum. Internationale Künstler lieferten Beiträge, allerdings nicht immer extra für Graz geschaffen, etwa Andreas Siekmans verschrottete Stadtmaskottchen-Müllkugel. Originelle Geschichten über Denkmäler sind in einer Installation auf dem "Platz der Freien Schützen" nachzulesen. Spannend ist auch die Broschüre mit einem kritischen Stadtspaziergang von Michael Zinganel.
"Meine Mutter hat mich umgebracht. Es hat sehr wehgetan, dennoch bin ich ihr nicht böse" - hier spricht ein abgetriebenes Kind bei einer Demonstration gegen die Abtreibung 2007 in Polen; man sieht hauptsächlich Senioren. Artur Zmijewski sammelte unter dem Titel "Democracies" Aus- und Überschreitungen in Demokratien, von der deutschen Fußball-WM bis zum Jörg-Haider-Begräbnis. Der eindrucksvolle Videoparcours ist in der Camera Austria zu sehen.
Ebenfalls nahe das "Provisorische Yoga" im Grazer Kunstverein: Künstler setzen sich mit den radikal gewandelten Beziehungen der Menschen zum Wohnraum und zum eigenen Körper auseinander. Ohne die schriftliche Erklärung ist aber kaum verständlich, was an einem Doppelbett und einer bunten Sprossenwand so spannend sein soll.
Länger verweilen möchte man hingegen bei "talk talk" im Kunstverein Medienturm, wo rund 17 Künstler das Medium Interview austesten und erweitern. Simone Bader und Jo Schmeiser etwa haben unter dem Titel "Things, Place, Years" jüdische Frauen befragt, die vor dem Holocaust nach England geflüchtet sind sowie deren Nachkommen. Die englische Identität anzunehmen erweist sich als ebenso schwierig, wie die jüdische Identität zu erklären. Corinna Schnitt ließ ein augenscheinlich perfektes Paar über sein aufreizend glückliches Leben in einer Villa in Los Angeles berichten: Die zwei sind Schauspieler, die Umfrageergebnisse vortragen. Ein Kunststudent "zerlegt" die Kunstausbildung ("Meine Freunde sagen" von Ronald Gerber). Ein junges Mädchen erzählt, während es sich kokett am Bett räkelt, von seinem Selbstmordversuch in einer Heilanstalt (Alex McQuilkin, "The Ranch").
Tolle Technik haut (noch) nicht hin
Nächste Station: "The Trend is Your Friend" von Sylvia Eckermann und Gerald Nestler im Medienkunstlabor des Kunsthauses: Man schlüpft, mit einer Art Kopfhörer ausgestattet, unter eine Membran und kann Luxuriöses vom roten Sportflitzer über Parfum bis zu roten Schuhen erwerben - und wieder verkaufen. Die Technik haut nicht hin. "Wie immer bei diesen Sachen", meint ein Besucher, "wenn das in ein paar Jahren beim Billa kommt, wird's funktionieren."
In den Minoriten-Galerien präsentiert der Kroate Zlatko Kopljar "Light Tower", eine Mischung aus Skulptur und Performance. "Leuchtturm" soll auf die verdrängte Vergangenheit und auf vergessene Kunst aus dem Osten hinweisen. U. a. sieht man den Künstler erhängt an einem Baum - und mit einer Leuchtkugel quasi als Geist im Wald . . . Mehrere Stunden Kunstgenuss strengen an: "Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe!", heißt griffig eine Multimedia-Installation im öffentlichen Raum, die beim Kunstverein "ESC im Labor" dokumentiert werden soll. Der Besucher stutzt kurz: Gehören Blumen und Gemüse auch dazu? Dann sieht er das Blech mit Keksen, also vermutlich doch keine Kunst. Beim Rückweg durch die Annenstraße stellt sich die Frage neuerlich: "Behold, I am your God" steht da über einem jungen Mann, der von einem Foto streng herabblickt. Im Annenviertel erkunden Künstler, eingeladen von "rotor", die sozialen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen der Bewohner.
"Gott" ist auch ein Thema der neuen in Deutschland viel diskutierten Performance des "Rimini Protokoll", spezialisiert auf Erkundung des Alltags. "Radio Muezzin" lässt Muezzins zu Wort kommen, die demnächst durch das Radio ersetzt werden sollen. Der Radio-Muezzin schied nach Spannungen mit den Live-Muezzins aus der Aufführung aus und ist nur mehr auf Video präsent.
Im Festivalzentrum, heuer im Orpheum angesiedelt, erzählen die drei traditionellen Muezzins von ihrem Leben: Der eine ist fast blind, der andere wurde von einem Auto angefahren und schwer verletzt, die Religion hat ihn wieder aufgerichtet. Der dritte musste seine Familie verlassen, weil der kleine Acker sie nicht alle ernähren konnte.
Die Performance berührt und bildet einen eigenartigen Kontrast zum hektischen Getriebe der Künstler beim "Herbst". Tradition prallt auf Moderne. Und: Man lässt einander leben. Das ist keineswegs mehr selbstverständlich, auch nicht in Graz.

Barbara Petsch