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Der Standard - 26.09.2009
Ein Tempel für Nackte, Denker und Waffenhändler
Steirischer Herbst schickt seine Gäste bei der Eröffnung auf eine spannende Reise mit Experten und Gauklern

Wenn man zu viel liebt und alles verzeiht, läuft man in die Irre", erklärt Franz Schuh zurückgelehnt in seinem Fauteuil einer Dame im Dirndl, die ihm gegenübersitzt. "Man muss wissen, wie viel Liebe ein Mensch braucht", fährt er fort. Die Dame nickt. Man unterhält sich bei Weißwein und Salzbrezeln in einem Stoffkubus über Kindererziehung. Auf Sofas verteilt sitzt ein Teil des Publikums der Eröffnung des Steirischen Herbstes .
Dort schob man sich am Donnerstagabend in der Helmut-List-Halle durch 24 solcher Boxen, die nur durch Stoffwände voneinander getrennt waren. Tempel der Vernunft hieß die vier Stunden durchlaufende Installation vom Theater im Bahnhof und raumlaborberlin, wo man suchte und fand. Etwa die Philosophin Isolde Charim, die an einem langen Tisch ihrem Kollegen Andreas Leo Findeisen gegenübersaß und ihm sowie zum Teil am Boden hockenden Zuhörern ihre Definition des "demokratischen Subjektes" erklärte.
Viele sitzen hier mehr als eine halbe Stunde lang und horchen gebannt zu. Man reißt sich los, weil man weiß, dass es noch so viel zu sehen gibt: etwa den Einbrecherkönig, der 30 Jahre im Gefängnis saß und auf die Frage, ob sich Einbrechen finanziell gelohnt hätte, jovial meint: "Eigentlich nicht. Weil, wennsd' in Häfn gehst, ghört des ganze Geld dem Anwalt". In weiteren Boxen warten eine Wahrsagerin, ein Homöopathiehasser, ein Kranführer, der Tod, der Karten mit Fragen nach dem eigenen Ableben austeilt, ein Insolvenzberater, ein Chaosforscher und die Performancekünstler united sorry, die sich nackt auf dem Boden räkeln. Man kann sich auch massieren oder von Gudrun Gut und Thomas Fehlmann Musik auflegen lassen und einen Waffenfachhändler kennenlernen. Dieser erklärt seriös, warum die Desert Eagle, eine israelische Militärpistole, "keine typische Damenpistole ist", während sie einem schwer in der Hand liegt.
Was nach Messeständen für Intellektuelle und Künstler klingt, ist eine Sammlung von Haltungen, Ideologien und Behauptungen, die zum Hinterfragen einladen, nachdenklich machen oder einfach amüsieren. Der Tempel ist Sinnbild für das, was Intendantin Veronica Kaup-Hasler Stunden später in ihrer Eröffnungsrede als die Rolle der Kunst gerade in der Krise beschreibt: "Sie lässt Unterschiedliches, scheinbar Unvereinbares nebeneinander gelten, kann mehrdeutig gesellschaftliche Konfliktfelder testen, ohne sich in Rechthaberei üben zu müssen."
Kaup-Hasler erklärt auch die Zweideutigkeit des diesjährigen Festivalmottos All The Same - "als Gleichgültigkeit, als Desinteresse bis hin zur Gleichberechtigung als Utopie und Alltagsforderung". Sie schließt mit einem Flaubert-Zitat: "Vielleicht war meine Gleichgültigkeit nur ein Übermaß an Begierde." Für Wissbegierige war der Tempel jedenfalls ein vielversprechender Festivalauftakt.

Colette M. Schmidt