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Falter - 30.09.2009
Von der alten Kunst des Erinnerns
Für den steirischen herbst gewähren die Bewohner eines Pflegezentrums intime Einblicke

Das war a Hetz“, lacht Anna Germautz und die anderen nicken zustimmend: der pensionierte Zirkusdirektor, die ehemalige Tischlerei-Angestellte und die Pfarrersköchin im verdienten Ruhestand. Wenn Frau Germautz vom Tag der Modenschau spricht, gerät sie ins Schwärmen. Designerin Jenny Brandner entwarf die Outfits, bequem zum Anziehen für die alten Glieder, aber nicht weniger modisch als die Garderobe der Enkelkinder.
Es sind Edith Draxl vom Kulturverein uniT und ihr Team, die regelmäßig Schwung in den eher eintönigen Alltag im Seniorenheim St. Peter bringen. Ob Tanzeinlagen, Gesangsstunden oder eben Modeschauen – immer spielen sie bei ihren Experimenten im Heim mit den Erinnerungen und Wünschen der Senioren. Eine Fotoausstellung unter dem Titel „Geschlossene Gesellschaft“ war das erste „offizielle“ Ergebnis, etwas adaptiert gastierte diese auch im Stadtmuseum.
Für den steirischen herbst hat Draxl sich etwas Außergewöhnliches ausgedacht: Das Seniorenheim wird sich dieser Tage in das „Hotel Rollator“ verwandeln, in dem Besucher sich in ein bereits bewohntes Zimmer stundenweise einmieten können. Die Senioren gewähren damit einen intimen Einblick in ihren Alltag im Heim – und auch in ihre individuelle Lebensgeschichte: Julia Laggner und Andrea Markhart haben die bruchstückhaften Erzählungen der Bewohner in monatelanger Arbeit in biografische Kurzfilme verwandelt.
An diesem Tag findet die Vorpremiere der animierten Trickfilme im kleinen Kreis des Seniorenheims statt. Es ist mucksmäuschenstill im Gemeinschaftsraum, alle starren gebannt auf die Leinwand. Frau Quintus’ Leben zieht als Zugfahrt vorbei. Eine schöne Zeit sei es gewesen, seufzt die kleine Frau mit den feinen Gesichtszügen. Quintus wird als Meisterin des Kopfrechnens dargestellt. „Ich weiß nicht, ob das angeboren ist“, erzählt sie stolz, „aber Quintus heißt ja auch, der Fünfte‘.“
Die alte Dame genießt sichtlich das Interesse an ihrem Leben, an ihrer individuellen Geschichte. Nichts zu spüren mehr von der lethargischen Gleichgültigkeit, der Verwirrtheit und Vergesslichkeit des Alters. „Es reicht manchmal ein Wort, und mir fällt alles wieder ein“, strahlt sie. Wie auf Knopfdruck beginnen auch die anderen Bewohner zu erzählen, sobald ihnen nur ein Stichwort geliefert wird. „Sich zu erinnern stiftet Identität“, erklärt Draxl ihre Motivation für das Projekt.
Hier im Altersheim kreuzen sich die Wege. Menschen mit unterschiedlichen Einstellungen, sozialen Herkünften und Nationalitäten teilen sich den Mittagstisch. Ein „Plädoyer für Individualität und Intimität im betreuten Wohnen“ sei auch der 70-minütige Kinodokumentarfilm von Julia Laggner, der ebenfalls beim steirischen herbst Premiere feiert. Dafür hat sie sich vier Lebensgeschichten von Heimbewohnern ausgesucht und einander gegenübergestellt.
Fast drei Jahre begleitet uniT die Senioren bereits – der Tod gehört in diesem Projekt zum Alltag. Zumindest Erinnerungsfetzen aus dem Leben der bereits Verstorbenen sind aber sicher verwahrt – ob zwischen den Seiten des druckfrischen Magazins oder als Kurzfilm auf einer DVD. Es sind manchmal kitschige, oft bedrückend ehrliche Einblicke in individuelle Geschichten, serviert mit einem Augenzwinkern.
Vor dem Mittagessen lässt sich der selbstbewusste Zirkusdirektor Emil Pfeiffer heute noch zu einem Ständchen hinreißen. Am Klavier begleitet von Henrik Sande, unterhält der Charmeur die älteren Damen mit einem Wiener Gstanzl. Mirko Maric von uniT verteilt in der Zwischenzeit Rosen und Manner-Schnitten an die Senioren, die langsam müde werden nach dieser vormittäglichen Filmpremiere. Bis zum steirischen herbst müssen sie wieder fit sein, schließlich wollen sie ihre Hotelgäste gebührend willkommen heißen.

Anja Reiter